Goldregenrausch

Begegnungen mit der Schriftstellerin Claudia Schreiber

Ein Projekttagebuch von Kerstin Wittstamm

Mit der Autorin Claudia Schreiber aus Köln verbindet mich seit der Theateradaption ihres Romans „Emmas Glück“ durch Caspar Harlan und mich eine enge Freundschaft. Sie ist 62 Jahre alt und seit etwa 2 Jahren schwer an Alzheimer erkrankt. Nun haben wir eine Adaption ihres neuen Romans Goldregenrausch (Verlag Kein&Aber) in Arbeit. "Mein neuer Roman erzählt von der Härte des Lebens in der Provinz, von Ackerbau und Unzucht und von Verwandten, die man nicht geschenkt haben will. Und, zum Glück für die kleine Marie, von der tiefen Liebe der verstoßenen Tante Greta zu diesem vernachlässigten Kind – ein seltsames Gespann, das einen ganz für sich gewinnt."

Um mich dem Romanstoff und den Figuren anzunähern habe ich mit Claudia lange Gespräche geführt und gemeinsame Zeit verbracht – an ihrem Lebensort Köln, bei einer Reise auf die Insel Schiermonnikoog und an ihrem Kindheitsort Schachten. Dies hat mir bewusst gemacht, wie sehr der Roman mit ihrer eigenen Biografie verflochten ist. In einem Projekttagebuch habe ich unsere gemeinsamen Erlebnisse und Gespräche skizziert. Sie geben wichtige Impulse für unsere Adaption zum Theaterstück "Goldregenrausch" - als Rückblick einer an Alzheimer erkrankten Frau.

Für die Entwicklung des Theaterstückes "Goldregenrausch" habe ich bisher zwei Förderungen erhalten: Der Fonds Darstellende Künste unterstützte mich mit dem Stipendium "TakeCare" und ein weiteres Stipendium erhielt ich vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.

Kölner Dom und Rhein-Brücke, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Adobe Stock

/1/ Rosenmontag

15.02.2021, Köln: Tag eins Goldregenrausch Stipendium … Ich reise mit dem Zug, meine Hündin Tireloo ist auch dabei. Irgendwann angekommen in Köln. Claudia schrieb, sie wartet draußen am Bahnhofsplatz, vorm Dom! Da ist eine Demo mit Transparenten, Freiheit für einen iranischen Politiker. Musik und Tanz, schön. Aber keine Claudia. Ich geh wieder in den Bahnhof und ruf ihre Nummer an und sehe wie draußen eine Frau ihr Handy in die Hand nimmt. Da ist sie ja!
Wir gehen fast zwei Stunden spazieren, zu ihrer Wohnung. Zwischendurch einen Cappuccino trinken, plaudern und nix reden und lachen! Schon mal schön. Tireloo ist aufgeregt, das gefällt uns auch. Lauter Menschen mit Kindern, oder Hunden oder allein die kurze Gespräche mit uns haben. Typisch Köln, sagt Claudia. Sie hat Ratatouille gekocht. Sie erzählt von ihrer Familie, den Kindern, ich von meinen Kindern. Sie raucht in ihrem ehemaligen Büro, das jetzt ausgeräumt werden soll. Ein Zimmer soll frei werden für eine mögliche Pflegekraft. In den Regalen lauter Bücher: „Emmas Glück“ in vielen Sprachen und Ausgaben, „Süß wie Schattenmorellen“ auch.
Wir sind müde. Ich übernachte in Claudias Schlafzimmer. Das Klavier steht nicht mehr da, wo es früher stand. Claudia kann nicht mehr spielen. Der leere Platz macht bitter klar, was ihr schon alles verloren gegangen ist – und noch verloren gehen wird. Scheiß Alzheimer!

Claudia Schreiber, Köln 2021, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Kerstin Wittstamm

/2/ Rote Lackschuhe

16.02.2021, Köln, Tag zwei: Hunderunde im Stadtpark. Zurück in der Wohnung, ist Claudia auch wach. Immer wieder vergisst sie, was sie will oder sucht. "Aber ich darf nicht böse auf meinen scheiß Kopf werden, ich muss nett zu mir bleiben". Es dauert länger, bis wir frühstücken. Ich mag das. Wir reden über die verschiedenen Erzählperspektiven. Dann müssen wir los, Claudia hat einen Therapeuten-Termin. Wir laufen durch Köln und sie erzählt von dem Missbrauch in ihrer Kindheit. Später essen wir zusammen – Wendland-Wildschwein und Supermarkt-Sekt. Ich stelle Fragen zur Verbindung zwischen dem Roman und Claudias Kindheit. In „Goldregenrausch“ beobachtet Greta, wie der Vater sich im Garten neben seine kleine Tochter legt. Ist aber harmlos. Warum erzählt Claudia das? "Weil es gut ist, wenn jemand ein Auge draufhat, aufpasst."
Morgen gehe ich mit zu Claudias Therapeuten. Sie möchte, dass ich sie erinnere, ihn zu fragen, wie er ihren Krankheitsverlauf einschätzt. Wann passiert was? Weil sie selbst entscheiden will, wie lange sie das mitmacht.

Baustellen in Köln, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Kerstin Wittstamm

/3/ Aschermittwoch

17.02.2021, Köln ohne Karneval, Tag drei: Claudia ist unruhig. Sie hat heute zwei Therapeuten-Termine, vergisst die Uhrzeit und kann sie auch nicht lesen. Ich beruhige sie, dass noch viel Zeit ist, aber dann hat sie doch den Mantel an und will los. Beim Laufen reden wir intensiv und schön. Wir sind zu früh am Krankenhaus, in dem der Neurologe seine Praxis hat. Drumherum Baustelle, herausgerissene Parkplatzschilder liegen in einem alten schönen Park. Hier kann ich in der Sonne sitzen und versuche mir den Anfang von „Goldregenrausch“ vorzustellen. Claudias Termin ist beendet. Sie ist angeregt, erzählt von dem Professor, ein schöner sympathischer Mann, der interessante Gespräche mit ihr führt. "Das macht mich ganz rössig". Hört sich gut an, wir lachen. Der nächste Termin ist in der Innenstadt, wir laufen zur Wohnung von Moritz, Claudias Sohn. Sie möchte ihm Kokosöl und einen Brief bringen. Claudia versucht sich zu erinnern, wo er wohnt, wie wir dahin kommen. Sucht ihre Zigaretten, weiß nicht mehr wo das Kokosöl ist, meint sie hat den Brief vergessen. Aber ich erinnere sie, dass der Brief und das Öl in meinem Rucksack sind. Und wenn wir uns verlaufen schadet es nicht. Sie ist begeistert, weil ich so "resilient" sei und erklärt mir, was das heißt. Der Professor hat ihr gleich zu Beginn der Alzheimer-Diagnose gesagt, es sei wunderbar, dass sie so klug ist. Es werde dauern, bis sie das alles vergessen habe. Wirklich komisch: Claudia haut dauernd Fremdwörter raus, erinnert sich aber nicht an Namen und Situationen. Unterwegs erzählt sie von ihren Söhnen, wie toll sie sind, wie glücklich es sie macht, dass die beiden sich gut verstehen, sich um sie kümmern. Dass sie eine gute Mutter war und ist. Eine bessere als ihre eigene.

/4/ Alles braucht Zeit

17.02.2021, Köln, Tag drei:  Der nächste Termin beim Therapeuten - ich erinnere daran, was sie ihn fragen wollte. Sie hatte es vergessen. Zurück fahren wir mit der Straßenbahn. Claudia schafft es nicht gleich ihre Vierer-Karte in den Apparat zu stecken. Eine Mitreisende hilft. Wieder in Claudias Wohnung lese ich weiter im Buch. Habe viele Fragen. Dann gehen wir einkaufen. Kurz vorm Verlassen des Supermarktes bittet mich Claudia, ihr zu erklären, wie die Einkaufswagen Chips funktionieren. Wir üben es und sie ärgert sich, dass sie das nicht mehr kann und ich ärgere mich, dass die meisten Menschen ungeduldig und respektlos werden, wenn jemand langsam ist.

/1/ Der Aufbruch

18.12.2021, Tag eins: Ich hole Claudia in Hannover bei ihrer Schwester ab, gestern ist sie in Begleitung hier mit dem Zug angekommen. Alleine Zug fahren traut sie sich nicht mehr. Ich bekomme noch einen Kaffee und dann los. Raus aus Hannover und auf zur Insel. Eine schöne Fahrt mit schönen Gesprächen. Über die Kraft die Frau hat, sich selber zu schützen und zum Beispiel mit einem Handgriff den Schweiger zu töten. Gleich rein in die Geschichte von Goldregenrausch: Der wichtige Mord.. Claudia friert, viel zu dünn macht der Alzheimer sie. Sie kriegt ne Decke, muss noch eine zweite Hose anziehen. Der Gürtel macht mehrfach Probleme. Die Pausen dauern etwas länger. Wir müssten uns beeilen. Um pünktlich zur Fähre zu kommen. Dabei habe ich eine Stunde zu viel eingeplant. Beeilen will ich mich nicht, also in aller Ruhe.

Goldregenrausch-Tagebuch, Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Kerstin Wittstamm

/2/ Auf der Fähre

18.12.2021, Tag eins. Noch rechtzeitig an Bord geschafft und schon fünf Minuten später geht es los. Hab ich das Parkticket eigentlich im Auto platziert? Wahrscheinlich ... Claudia holt ein Bier und einen Apfelsaft für uns. Ich trau mich noch nicht Alkohol zu trinken, hab ich jetzt viel Verantwortung? Ein Bus fährt uns mit Handkarre zur Unterkunft. Schöne Wohnung, keiner da, aber alles ist für uns vorbereitet.

Goldregenrausch-Tagebuch, Claudia Schreiber mit Tireloo am Meer, Foto: Kerstin Wittstamm

/3/ Auf der Insel

18.12.2021, Tag eins. Zuerst mit Hündin Tireloo ans Meer, Claudia braucht eine Pause und bleibt in der Wohnung, danach essen wir Suppe und Ahle Wurscht (bestellt aus Hessen, Claudias Heimat. Sie ist begeistert!) und gehen dann zusammen einkaufen. Wein und Bier. Und Kräutertee. Dann ein schöner Abend mit viel Reden. Die nächste Reise machen wir nach Moskau. Der Mensch ist ein Mängelwesen - das muss ich nachlesen- eine Theorie von Arnold Gehlen. Wir können intensive, tiefe Gespräche führen, aber sie findet auch beim dritten Mal die Tür zur Terrasse nicht.

/4/ Locked down

19.12.2021, Tag zwei. Morgens schnell einen Tee und gleich zum Strand mit Tireloo, Claudia schläft noch. Sie sitzt auf der Terrasse und raucht, als wir zurückkommen. Noch einen Tee, ich koch ihr Kaffee und dann laufen wir los, Brötchen holen und ein Stück durch den Ort. Claudia versucht sich zu erinnern, wo und wann sie schon mal hier war. Vor einem kleinen Laden erfahren wir von einem Mann, dass alle Geschäfte zumachen, Lockdown. Ihn trifft das hart. Er wird Sachen ins Fenster stellen, damit man sich verabreden kann, wenn man was haben möchte. Wir planen per Telefon bei ihm einzukaufen, Claudia ist voller Mitgefühl, leider ist es sowas wie ein Möbelladen ...

Goldregenrausch-Tagebuch, Strand von Schiermonnikoog, Foto: Kerstin Wittstamm

/5/ Im Tapetenzimmer

19.12.2021, Tag zwei. Dann ein üppiges Frühstück. Ich lese die Szene vom Schweiger und wie er von Greta ermordet wird vor. Claudia: „Das ist mir alles sehr fremd. Aber das ist doch richtig gut geschrieben! Richtig gut. Fies gut.“ Sie sagt, man muss immer viel wegschmeißen, nur kurz und knapp erzählen. Aber was mir schon beim ersten Lesen des Manuskripts auffiel: Die Szene der kleinen, verwahrlosten Marie im „Tapetenzimmer“ ist unglaublich ausführlich und detailliert beschrieben – wie sie mit Exkrementen spielt, die Tapeten abkratzt, auf Radiofetzen hört ... warum ist das so lang und intensiv?
„Ich wollte nix vergessen, alles dazu sagen, das ist biografisch.“ Claudia bricht in Tränen aus, sehr vehement und überraschend. Wir wundern uns noch eine Weile darüber. Besonders sie selbst. „Ich wusste nicht, dass das noch so da ist“
Es ist ungefähr Mittag als wir vom Frühstückstisch aufstehen und am liebsten würde Claudia jetzt Essen bestellen. „Wir haben doch jetzt erst gegessen!“ „Wirklich? Ich habe aber schon wieder Hunger!“ Dabei ist sie so dünn und isst eigentlich viel zu wenig ... Also ein Stück Christstollen und raus.

Goldregenrausch-Tagebuch, Claudia Schreiber mit Tireloo am Meer, Foto: Kerstin Wittstamm

/6/ Hinter den Dünen

19.12.2021, Tag zwei. Wir gehen an den Strand, im Weggehen immer wieder die Frage, wo ist die Tür. Schließen wir ab? Wo leg ich die Tasche hin. Finde ich nicht schlimm, Claudia ist vieles peinlich. „Ich schäme mich so!“ Sie ist schnell überfordert, von Mundschutz, Brille, Mütze, Gürtel an der Hose – Kleinigkeiten. Ich kann das sogar nachfühlen.
Am Strand ist es wunderschön, das Meer, alles in Grautönen. Aber Claudie bekommt Angst. Sie bekommt fast Panik vor dem Wasser- obwohl es weit weg ist, wir gehen dann zurück und laufen lange in den Dünen.
Nach unserem intensiven Gespräch am Morgen will ich lieber über andere Dinge reden. Claudia erzählt von ihrem Freund Matze, und plötzlich befinden wir uns mitten in einem Krimi in Moskau. Ich erzähle von meinen Überlegungen, Goldregenrausch vielleicht zusammen mit Lola zu spielen, dann wären es zwei Figuren. Claudia möchte, dass wir uns beeilen mit der Dramatisierung von „Goldregenrausch“, weil sie so gern die Premiere miterleben möchte. „So lange lebe ich dann noch!“ Wir verabreden erst mal Dezember 2023. Sie lacht, will versuchen das zu schaffen. „Ich schenke dir die Rechte am Stück“ das freut mich sehr. Aber mir fällt ein: Die Rechte hat sie gar nicht mehr, sind ja beim Verlag. Claudia ist sehr enttäuscht. Was kann sie mir den dann schenken. Wir planen doch eine Reise nach Moskau! Wirklich? Claudia kann sich nicht mehr erinnern. „Das schaff ich nicht mehr!"

/7/ Dinner for one

19.12.2021, Tag zwei. Zurück in der Wohnung gibt es ein Bier aus der Dose! Dabei schauen wir uns „Dinner for one“ auf Kölsch an und im Original, weil Claudia Köln und Karneval liebt!
Schon seit langem will Claudia mit mir „Rainman“ anschauen. „Weil ich auch am liebsten einfach hinter dir herlaufe!“ Ein schöner Film. Später kommt Claudia nochmal zu mir, sie findet ihre Zahnbürste nicht. Ich helfe ihr suchen.

/8/ Alzheimer erzählt

20.12.2021, Tag drei. Morgens Seehund gesehen, war das schön!
Dann gehe ich einkaufen, Claudia hat Kopfweh, bleibt mit Tireloo in der Wohnung. Bestimmt eine Stunde bin ich weg, Claudia sagt: „Ich habe mich wie ein Kind gefühlt, allein gelassen. Ich wußte nicht mehr, wo du hingehen wolltest. Aber ich wusste du kommst zurück“. Frühstücken, Spaziergang in die Dünen, wieder mit unserer roten Karre: Thermoskanne, Kekse, Schaffell. Claudia hat noch immer Kopfeschmerzen. Pause auf dem Schaffell in den Dünen? Claudia hat Angst, dass wir einsinken, wie im Moor. Wir laufen bis zum Strand. Da leg ich das Fell aus. Wir trinken heißen Saft. Nochmal die Frage nach der Erzählperspektive. Kerstin: "Ich habe schon mal gedacht es könnte Marie sein, als alte Frau, die Alzheimer hat". Pause. Ich warte, ob der Gedanke Claudia erschrickt. Aber nein: das gefällt ihr. Ja, dann könnte abstrakter erzählt werden, es ist nicht sicher ob alles so stimmt. Genau was ich auch dachte. Toll.

Goldregenrausch-Tagebuch, Mond über dem Meer, Foto: Kerstin Wittstamm

/9/ Mond und Meer

20.12.2021, Tag drei. Nach dem Abendessen, Spaziergang für Kerstin und Tireloo, Zigarette für Claudia.
Dann nochmal der Roman: die furchtbare Zeit im Tapeten Zimmer, - wie kann man das auf der Bühne darstellen. Vielleicht immer wieder anfangen, aufhören... es wieder versuchen – aufhören... Claudia zitiert aus dem Lukas Evangelium: Es wäre ihm besser, dass man einen Mühlstein an seinen Hals hängte und würfe ihn ins Meer, denn dass er diese Kleine ärgert.
Heute haben wir keinen Wein gekauft, Claudia kriegt den letzten von gestern und dann noch ein Bier, sie will es in ein Glas zu schenken und hält das Glas falsch herum. Wie seltsam, erst erzählt sie von sozialwissenschaftlichen Versuchen und einen Moment später findet sie weder den Kühlschrank noch den Schrank mit dem Geschirr. Morgen müssen wir unbedingt mehr Wein einkaufen. Und Sekt!
Sie hat schon wieder vergessen, dass wir nach Moskau fahren wollen. Meint zuerst wieder „Dass schaff ich nicht“, dann findet sie die Idee wunderbar. Puschkin bekommt dann von uns ein Stein auf sein Grab gelegt. Damit sie es nicht wieder vergisst, schreibt sie es heute auf. Nach einer langen nachdenklichen Pause, fragt sie mich, wobei es ihr entsetzlich peinlich ist, wie ich heiße. Ich muss lachen, sie dann auch.

Goldregenrausch-Tagebuch, Möwe am Strand, Foto: Kerstin Wittstamm

/10/ Schreib das auf, Kisch!

21.12.2021, Tag vier. „Schreib das auf, Kisch!“ sagt Claudia, wenn ich anfange zu notieren, ihre Aussprüche Gedanken, meine Fragen und Überlegungen, Wer Ist denn Kisch? Ich lerne: Egon Erwin Kisch. Ein rasender Reporter, der durch sein Kriegstagebuch bekannt wurde, dass er an der Zensur vorbei zur Veröffentlichung gebracht hat. Einfach in der detaillierten Beschreibung entstehen unmittelbare Zeitzeugnisse.

Einkaufen, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Kerstin Wittstamm

/11/ Einkaufen

21.12.2021, Tag vier. Dann heißen Saft vorbereitet und die Karre beladen mit Taschen und Proviant: einkaufen und dann zum Kloster und zum Friedhof der Ertrunkenen ist der Plan. Einkaufen heißt bootsrappedun auf Niederländisch. Claudia hat viele Kekse gekauft, als Geschenke für ihre Söhne. und Bier und Rotwein. und Erdnussmus und Postkarten. Wir mussten feststellen, dass ich den heißen Saft stehen gelassen hab in der Wohnung, egal. Das Kloster ist klein und unscheinbar, dabei sind es die Insel Begründer. Schier= grau, Monni= Mönche, Koog= Insel. Außerdem (wegen Corona?) geschlossen.

Goldregenrausch-Tagebuch, Frostzauber, Foto: Kerstin Wittstamm

/12/ Frostzauber

21.12.2021, Tag vier. Weiter zum Friedhof. Der liegt wirklich sehr schön, im Wald, ein Gelände wie eine Heidelandschaft. ein großes Stück noch immer weiss gefroren, zauberhaft. Claudia legt sich in die Eiskristalle und ist hingerissen. Tireloo gefällt das auch.
Wir toben durch den Zauber. Am Friedhof befällt uns eine Mischung von Rührung über die Geste der Inselbewohner die Toten des ersten und zweiten Weltkrieges aus England, Australien, Frankreich und Deutschland zu bestatten und sowas wie Entsetzen über diesen scheiß Krieg. Claudia erzählt, ihre Eltern waren auch beide kriegsgeschädigt, ihr Vater hatte mehrere Schussverletzungen, war sechs Jahre im Krieg. Furchtbar.
Auf dem Rückweg kommen wir an Frouwe Jacouba vorbei, der Laden mit Pizza, Wein und Souvenirs. Claudia versucht einen Eintopf zu kaufen, aber nix richtiges dabei. Sekt hat sie mir versprochen, alles in Papier packen lassen von der netten Bedienung und kichernd raus. Claudia braucht eine Zigarette auf der Bank vorm Laden.
Jetzt ist es noch ein knapper Kilometer bis zu "uns". Uff, Füße hoch und den vergessenen Saft trinken. Und Ahle Wurscht essen. Ich bekomm einen Anruf, ein Grabschaufel-Termin nach Weihnachten.

Pfad durch die Dünen, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Kerstin Wittstamm

/13/ Pfad durch die Dünen

21.12.2021, Tag vier. Ein kleiner Gang zum Leuchtturm, dann machen wir den Sekt auf und feiern Wintersonnenwende. "uf de bollen von de bock" unser Lieblingstrinkspruch. Wir wollen „Karniggels“ angucken von Detlev Buck auf DVD, wegen der dörflichen Situation. Können leider nix damit anfangen, reden weiter über den Tod. Ich lauf noch eine kleine Dünenrunde mit Tireloo. Claudia hält den Drahtverschluss der Sektflasche in der Hand als ich zurückkomme, weiß nicht mehr was das ist. Ich sag, der Verschluss vom Sekt, das kann weg. Aber sie will nicht, "Es fehlt die Struktur, da gehört noch was dazu". Ich sammle die Blechrundung aus dem Müll, bastle alles auf die Flasche, aber es reicht irgendwie nicht. Sie ist total durcheinander. Findet ihr Zimmer nicht. Wir gehen zusammen zu ihrem Bett, ordnen Zahnbürste und Zahnpasta, die Decke, ihr Nachthemd ... "Mir ist das peinlich" Ich nehme sie in den Arm, wir lachen etwas und nun lieg ich auch in meinem Bett.

Kunstfund, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Kerstin Wittstamm

/14/ Beschützt

22.12.2021, Tag fünf.  Morgens zum Strand, in die andere Richtung. Ein Kunstfund. Nach dem Frühstück: Ich lese aus Goldregenrausch vor, nach der Vergewaltigung. „Scheiß drauf.“ Sagt Greta, nach der Vergewaltigung, alles was einem Schlechtes widerfährt hinnehmen, vergessen. Warum geht Greta nicht weg? Sie weiß zuwenig. Wie ist es woanders? Das kann sie nicht. Marie schafft es zu gehen. Nimmt sich dabei Greta zur Hilfe. Claudia erinnert sich. Erzählt von ihrer Tante. Warum kann Greta nicht sich selber schützen, aber für Marie einen Mord begehen. Das ist eben so.

Glühwein zum Aufwärmen am Strand, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Kerstin Wittstamm

/15/  Aufwärmen mit Glühwein

22.12.2021, Tag fünf.  Wir gehen raus, Weihnachtsgeschenke sammeln am Strand. Hab ich vorgeschlagen, weil Claudia eingefallen ist, dass sie keine Geschenke für ihre Jungs hat. Unter dem roten großen Leuchtturm stehen in einer Holzkiste Muscheln zum Verkauf. Stück 25 Cent. Wir schlagen zu! Durch die Dünen traut Claudia sich nicht zu gehen, sie hat Angst, dass wir einsinken. Also laufen wir eine ganze Weile parallel. Es ist lausig kalt. Ich will unbedingt barfuss ins Meer. Claudia: „Mach das nicht mit mir. Ich hab schon so viele Leute sterben sehen.“ Lässt mich dann doch. Zurück, bekomme ich Glühwein! Kurzes Aufwärmen. Wieder zuhause packen wir und ich koche Abendessen. Manchmal ist Unrecht recht. Wir sprechen über Moral und Tyrannenmord. „Ich liebe diese Szene, wenn sie ihn umbringt. Auch dass Frauen einfach mal zugreifen. Aggressiv zu werden, nicht nur empathisch. Und einen Diskurs darüber führen, ob das legitim ist.“

Abreise und Abschied, Goldregenrausch-Tagebuch, Foto: Kerstin Wittstamm

/16/ Abschied

23.12.2021, Abreisetag. Der Karren ist voll gepackt. Abschied von der Insel und zurück nach Hause.
Claudia erinnert sich nicht mehr an meine Idee, Marie als Frau mit Alzheimer darzustellen. Warum Alzheimer? Das Thema und die Möglichkeit, manche Episoden mehrmals zu wiederholen, ist spannend. So, wie Claudia auch einige Geschichten ganz oft erzählt. Immer wie zum ersten Mal. Die Tapetenraum-Zeit wäre dadurch sehr gut darstellbar. „Ich glaube, dass kann sehr interessant sein.“

Unterwegs: Claudia Schreiber und Kerstin Wittstamm, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten, Foto: Jochen Quast

/1/ Alles so wie immer

21.02.2022, Tag eins, Köln: Vorbei an Sturmschäden, von Braunschweig nach Köln. Vorfreude auf Claudia. Ich finde sogar einen Parkplatz, Claudia freut sich genauso so wie ich. Eigentlich ist in einer Stunde Aqua Training für Claudia (was sie nicht mag. „Mit lauter alten Frauen im Wasser liegen…“) aber sie lässt es ausfallen. Wegen Sturm. Prima. Dann gehen wir spazieren. Tireloo freut sich. Es regnet ist ungemütlich und kalt. Wir brauchen etwa zwanzig Minuten - und dann ist alles sowie immer und wir erzählen und reden und sind vergnügt. Ziemlich nass gehen wir zurück.
Mittwoch wollen wir nach Schachten fahren, Claudias Heimatdorf. Also müsste Claudia den Termin bei der Ergotherapeutin absagen. Sie findet die Telefonnummer aber schafft es nicht anzurufen. Sie muss weinen. Ich helfe ihr beim Eintippen der Nummer, irgendwie klappt es dann, war aber letztlich für sie ein Scheitern. Kacke.

Claudia Schreiber, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/2/ Wer bist du?

21.02.2022, Tag eins, Köln: Wir gehen in ein thailändisches Restaurant. Irgendwann sagt Claudia: "Ich wusste gerade für 10 Minuten nicht wer du bist, was wir hier machen". Sie ist irritiert darüber, ich auch. Wir finden es auch komisch und sie ist froh, dass sie es sich traut zu sagen. „Ich wusste wirklich nicht mehr, wer du bist. Du sahst so anders aus.“
Ist das so, wenn man Alzheimer bekommt? Richtig lustig finden wir das nicht, aber wir tun so als ob. Was auch sonst.
Wir gehen wieder zurück, Claudia freut sich auf die Zigarette zuhause. Sie hat vor ein paar Jahren das Rauchen aufgegeben. Aber nach der Diagnose Alzheimer sofort wieder angefangen. Voller Genusss. Claudia erzählt von Schachten, gehen wir auf den Friedhof, zum Grab der Eltern? Claudia sagt, da will sie auch beerdigt werden. Geboren in Schachten und begraben. Auja, den andern Toten kann sie dann sicher einiges erzählen. Ich bekomme mein Bett gebaut, wir trinken noch ein Glas Wein. Dann gehen wir schlafen.

Der betonierte Garten, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/3/ Der betonierte Garten

22.02.2022, Tag zwei, Köln: Heute bekam Claudia die Nachricht vom Neurologen, dass ihr noch zwei Jahre in einigermaßener Normalität bleiben. Dass muss man erst mal an sich ranlassen.
Eigentlich wollen wir eine Mittagspause machen. Kommen doch ins Reden. Ich lese die Stelle vor, an der die Mutter von Marie ihre eigenen Fantasien von „Die Brücken am Fluss erzählt“.
Claudia lacht sich scheckig.
Sie kann sich Caspars Idee vorstellen, dass Greta und die Mutter in einer Person verschmelzen. Die redet nur zu den Pflanzen, zu Marie. Und wenn sie verstummt, nachdem der Garten zubetoniert wurde, übernimmt Marie das Erzählen.

Claudia Schreiber 2022, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten, Foto: Jochen Quast

/4/ Noch zwei Jahre

22.02.2022, Tag zwei, Köln: Therapietermin. Claudia ärgert sich wiedermal über ihre größer werdende Vergesslichkeit und verdreht die Augen: Ich glaub, ich habe Alzheimer. Kerstin: Mal nicht den Teufel an die Wand. Fanden wir sehr lustig.
Fernsehen gucken am Abend, die Nachrichten. Wir hören Scholz zu, und anderen die über den Ukraine Konflikt reden. Wir sorgen uns auch.
Der Krimi danach klappt nicht, „Zerv“, es ist zu kompliziert. Wir reden lieber. Claudia überlegt: Noch zwei Jahre, was mach ich noch? Nach Jerusalem reisen. Das Gästezimmer einrichten. Richtig nette Leute einladen.

Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/5/Aufbruch nach Schachten

23.02.2022, Tag drei, Köln, Schachten: Claudias Sohn Moritz kommt am Vormittag. Er erzählt von Schachten, der Familie, seinen Cousins und Cousinen. Und berichtet Claudia, dass es im Westerwald eine Einrichtung für Demenzkranke gibt, die sie sich mal anschauen könnten. Claudia wird immer stiller. Du musst da nicht hin, sagt Moritz. Claudia weint und weint, Moritz hält sie im Arm. Claudia sagt: „Ich will nicht mehr leben, wenn ich blöd werde. Jeden Tag muss ich erst mal wieder überlegen wie heiß ich, wo muss ich hin. Das fängt alles wieder von vorne an. Hier ist es gut, da kenn ich alles. Ich geh nicht in sowas wie im Westerwald. Ich geh nicht in irgendwelche Institutionen. Das mach ich nicht.“
Wir fahren nach Schachten. Besuchen erst den Friedhof, finden das Grab der Tante und das der Eltern. Am Abend finden wir kein Restaurant in Grebenstein. Wir kaufen Ahle Wurst und Bier und Sekt und gucken „Die Brücken am Fluss“ in meinem Laptop. Ein ganz schöner Abend!!

Frühstück im Hotel, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/6/ Frühstück

24.02.2022, Tag vier, Schachten: Krieg in der Ukraine. Irgendwie zu viel für diesen so lang geplanten Tag, mit Fotograf Jochen Quast und Claudia. Am Morgen hole ich Jochen in Kassel am Bahnhof ab. Mein Auto macht Probleme, es braucht wohl eine Werkstatt. Wir frühstücken zusammen mit Claudia im Hotel.

Friedhof Schachten, Grab der Eltern, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/7/Über Gräber

24.02.2022, Tag vier, Schachten: Nochmal auf den Friedhof. „Erlöst durch Jesu Blut“ steht auf dem elterlichen Grab, das will ich erklärt haben von Claudia. Sie ist gut in Theologie, hat jahrelang als überzeugte Baptistin mit Menschen über den „Herrn Jesu“ geredet. Sie erklärt mir, dass Jesu durch seinen Tod die "Erbsünde", die kollektive Schuld, auf sich genommen habe. „Dadurch sind wir erlöst. Kennst du das denn nicht?“ Ich kann nicht empfinden, dass das ein schönes Bild sein soll. „Für mich soll doch keiner sein Blut vergießen!“ Wir diskutieren. Dann stehen wir wenige Meter weiter auf der Betondecke, unter der einst ein Garten war. Claudia hat diese gewaltige Geschichte in ihrem Roman aufgegriffen. Der Bruder, der den geliebten Garten der Schwester zubetoniert. Auch das, ein Grab.

Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/8/ Familienbande

24.02.2022, Tag vier, Schachten: Wir werden sehr nett aufgenommen von Claudias Schwägerin und Bruder. Aus einem riesigen Fenster blicken wir in die Weite. Der kreisrunde Wald hinten – mit den Brombeeren - da war es erotisch, erinnert sich Claudia. Wir brauchen für den Wagen eine Werkstatt. Claudias Bruder organisiert uns einen Termin, morgen um acht kann ich hin. Also einen Tag verlängern, das Hotel hat damit kein Problem.

Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/9/ Der Ersatzgarten

24.02.2022, Tag vier, Schachten: Zusammen laufen wir zum Garten, den die Tante als Ersatz für den zubetonierten bekommen hat. Wir haben uns erklären lassen, welcher der richtige ist. Gehört mittlerweile den Jägern, die feiern da gern.

Die Konservenfabrik, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/10/Die Konservenfabrik

24.02.2022, Tag vier, Schachten: Dann fahren wir noch zur Konservenfabrik, die ehemals den Eltern gehörte, nun im Besitz des Neffen ist und holen Claudias Deputat ab. Was ist das? „Ein in Naturalien bestehender Teil des Lohnes“ sagt das Lexikon. Diesen erhalten Claudia und ihre Schwestern.

Flughafen Kassel, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/11/Der Flughafen

24.02.2022, Tag vier, Schachten: Claudia wünscht sich noch einen Besuch im Flughafen Kassel. Was für eine irre Geschichte: Mitten in der Landschaft, in der Natur, befindet sich ein riesiger leerer Flughafen, wie von einem anderen Stern herabgefallen. Hier wird gerade mal ein Abflug am Tag abgefertigt. Ich lese bei Wikipedia: „Es stehen über 1400 kostenlose sowie ca. 110 kostengünstige Parkplätze zur Verfügung.“ Tja, das stimmt, die stehen zur Verfügung. Ein unwirklicher Ort. Aber Claudia verbindet auch mit diesem Platz eine Geschichte: „Meine Mutter hat hier mal ihren Geburtstag gefeiert!“ erinnert sie sich. “Sie hat die Dorffrauen zu Kaffee und Kuchen im schicken Flughafen eingeladen“.

Claudia Schreiber und Kerstin Wittstamm, Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten, Foto: Jochen Quast

/12/Am Bahnhof

24.02.2022, Tag vier, Schachten: Eigentlich wäre jetzt ein Café nett, wir finden keins. Also essen Claudia, Jochen und ich im Bahnhof Currywurst. Jochen hat alles begleitend fotografiert und macht noch Portraits von uns. Nachdem Jochen gefahren ist, kehren auch wir zurück. Claudia freut sich auf die Badewanne. Ich geh nochmal Bier kaufen. Heute können wir im Hotel, im Restaurant essen. Nachrichten per Internet, kein Fernseher mit einem Mal, im Flur kein Licht. Mit Taschenlampe taste ich mich nach unten und bekomme die Information: „Da ist eine Sicherung raus, wir arbeiten schon dran.“ Kurz darauf wieder Licht. Der Fernseher will aber noch immer nicht. Vielleicht ganz gut, denke ich insgeheim, Claudia macht diese Kriegssituation noch nervöser als mich. Sie hat in ihren Jahren mit der Familie in Moskau als Journalistin gearbeitet, ihr ehemaliger Mann war Kriegsberichterstatter. Eine Freundin wurde erschossen im Krieg. Gewalt scheint irgendwie immer Thema in ihrem Leben gewesen zu sein. Darf man sich auch mit Gewalt wehren? „Der Mord steht im Mittelpunkt!“ sagt Claudia zu ihrem Roman. Mord ist unmoralisch, Gewalt ist unmoralisch – darf man sich mit unmoralischen Mitteln wehren, wenn man angegriffen wird? Ich begleite sie nach unten zum Rauchen, laufe eine Abendrunde mit Tireloo. Und dann gehen wir schlafen.

/13/Autowerkstatt

25.02.2022, Tag fünf, Schachten: Früh zur Autowerkstatt. Sind die nett! Aber wir brauchen ein Ersatzteil. „Ihr könnt mit unserem Auto zu Claudias Familie fahren, wir rufen dann an.“ Den ganzen Tag verbringen wir dort, hören und lesen Nachrichten, ich lerne Text (morgen habe ich in Braunschweig eine Probe). Draußen wildes Wetter: Schnee, Hagel, Sonnenschein. Durch die Panoramafenster in alle Richtungen sehen wir Wolken heranziehen, wieder verschwinden. Claudia ist nervös. Die Werkstatt ruft an: Das Ersatzteil ist angekommen, passt aber nicht. Warten auf das nächste mit der Lieferung am Nachmittag. Wir essen mit Babsi und Reinhold. Verrückt zu erleben, wie verschieden sie ihr Leben anpacken. Alle Geschwister haben in der Nachbarschaft ihren Ehepartner gefunden. Claudias erster Mann kam auch aus der Gegend. Aber sie hat vieles anders gemacht. Ist weiter zur Schule gegangen, gegen den Willen der Familie aufs Gymnasium, ist aus der Glaubensgemeinschaft der Baptisten ausgetreten, schaut die Kindheitserinnerungen mit fassungsloser Direktheit an. Claudia hat erzählt, dass alle Geschwister ihre Zeit allein im Tapetenzimmer verbracht haben, zumindest den Winter über. Ohne Windelwechseln, Mahlzeiten bringen, Spielzeug, geregeltes Essen. Woran mögen sie sich erinnern? Ich traue mich das nicht zu fragen.

Goldregenrausch-Tagebuch, Reise nach Schachten mit Schriftstellerin Claudia Schreiber, Foto: Jochen Quast

/14/Abreise

25.02.2022, Tag fünf, Schachten: Endlich um halb fünf die Nachricht: das Auto ist fertig! Um 17 Uhr starten wir von der Werkstatt Richtung Köln. Fahren in die Dunkelheit und hören Berichte zur Ukraine. Sehr bedrückend, kein schönes Ende unseres herrlichen Roadmovies. Claudia sucht ununterbrochen ihre Tasche mit Handy und Geldbeutel. Ich kann ihr nicht helfen auf der Autobahn, bin auch nicht entspannt, weil ich noch so eine weite Strecke zu fahren habe. Zwar bin ich sicher, dass die Tasche im Auto ist, aber das hilft Claudia nicht. Und dass es ihr nicht hilft, ärgert sie. In Köln vor einer Ampel stehend suche und finde ich die Tasche. Wir tragen ihre Sachen in ihre Wohnung und dann starte ich los, wieder zurück, Richtung Braunschweig.

Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien,
sowie vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur.
Einen herzlichen Dank auch an die Freie Bühne Wendland!

Weitere Inszenierungen und Projekte:
Geschichte einer Tigerin, von Dario Fo, gespielt von Kerstin Wittstamm, Foto Kina Becker
Geschichte einer Tigerin
Ein-Personenstück, Freie Bühne Wendland
Leni Riefenstahl, Titel, Time Magazin 1936
Leni Riefenstahl & Susan Sontag
Theaterstück, Freie Bühne Wendland
Kerstin Wittstamm in Emmas Glück, Foto: Jochen Quast
Emmas Glück
Ein-Personenstück, Freie Bühne Wendland